Überwältigungsverbot: In einer NS-Gedenkstätte, welche eine traumatische Geschichte in sich trägt und Teil einer Erinnerungskultur der Verantwortung ist, erhält dieses Verbot ein umso größeres Gewicht. Es gilt nicht, Jugendliche mit einer Vielzahl schockierender Momente emotional zu überrumpeln und diese Momente dafür zu nutzen, moralische Botschaften zu vermitteln. Vielmehr sollen sie in ihrer Fähigkeit bestärkt werden, die Geschichte differenziert zu analysieren und diese Fähigkeit auch bei der Betrachtung gegenwärtiger politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen zu nutzen.
Erleben und Lernen
„Wenn ich mir hier das ehemalige Lager ansehe und überlege, was hier passiert ist, und da draußen am Eingang nicht
weit von hier die Wohnhäuser der SS, kann ich mir nur schwer vorstellen, wie die Wachmänner nach
ihrer Arbeit nach Hause zu ihren Familien gehen konnten.“
Ein Schüler beim Rundgang während eines Studientages, 2017
Sosehr die gezielte Emotionalisierung innerhalb der Gedenkstättenpädagogik abgelehnt wird, steht es dennoch außer Frage, dass die Wahrnehmung der Schüler*innen vom Ort eine zentrale Rolle für den Lernprozess spielt. Mitunter kann sie historisches Verstehen befördern. Etwa durch Irritationen und daraus folgende Fragen, welche die Ortserfahrung bei ihnen aufwirft, oder ein Gefühl, welches sie an sich selbst wahrnehmen. Gefühle, die der historische Ort auslösen kann, werden demnach nicht tabuisiert, sondern können Gegenstand der Auseinandersetzung werden, wenn danach gefragt wird, wo sie herkommen. Tatsächlich können Jugendliche den Ort, von dem sie Bilder und Vorstellungen mitbringen, „sinnlich erleben“. Erleben heißt hier aber nicht nacherleben, auch nicht sich in das Erlebte von Opfern oder gar Tätern hineinzuversetzen. Vielmehr ist es Anspruch der Gedenkstätten durch ein breites, methodisch variierendes und multiperspektivisches Angebot den Jugendlichen eine Fülle an Zugängen zum Thema anzubieten. Unter Multiperspektivität verstehen wir allerdings nicht das bloße Bemühen, eine Vielzahl und Vielfalt „unterschiedlicher“ Sichtweisen zu berücksichtigen, sondern die Reflexion auf das Verhältnis der Perspektiven zueinander. Multiperspektivität: Die Gedenkstättenpädagog*innen bemühen sich bei der Wahl ihrer Zugänge, der Methoden sowie der quellengestützten Perspektiven vielfältig vorzugehen, Diversität aufzuzeigen, jede präsentierte Perspektive aber auch quellenkritisch mit den Jugendlichen gemeinsam zu untersuchen und zu reflektieren.
Konsumieren und Aktivieren
„Was muss ich jetzt machen?“
Die Frage, die wir alle schon tausendfach zu einem x-beliebigen Zeitpunkt von Schüler*innen gehört haben.
Zuletzt ist es nicht in unserem Interesse, die Teilnehmenden zu bloßen Konsument*innen unserer Vermittlungsbemühungen zu machen. Die Führungen sind im besten Fall dialogisch angelegt. Es sollte breiten Raum für Fragen und Diskussionen geben, die zum Nachdenken anregen. Durch selbstständiges Auswählen und Erarbeiten von Inhalte mithilfe unterschiedlicher Quellen, wie Fotografien, Häftlingskunst, archäologische Überreste, Dokumente und Erinnerungsberichte in den Workshops, werden die Schüler*innen aktiviert, ihre Lerninhalte selbst zu beinflussen.
Diese versuchen wir, dem Alter, Vorwissen, Lernniveau und – wenn geäußert – Interessen der Jugendlichen, sprich den Bedürfnissen der Teilnehmenden anzupassen. Dabei müssen wir aber trotz allem ein Auge darauf haben, ob die Jugendlichen sich nicht zu irgendeinem Zeitpunkt überfordert fühlen, sowohl emotional als auch vom Anspruch des Angebotes. Gerade bei der Vermittlung sensibler und mitunter aufwühlender Inhalte und unter Berücksichtigung der Ortserfahrung machen wir es daher zum Prinzip, Störungen bspw. in Form einer Verweigerungshaltung oder von provokanten Äußerungen Vorrang zu geben. Subjektorientierung/Schülerorientierung: Die aktive Mitgestaltung durch die Lernenden, deren Selbstständigkeit und Mitverantwortung sind wesentliche Bestandteile eines schülerorientierten Bildungsangebotes. Dieses Prinzip beruht auf einem demokratischen Grundgedanken und soll außerdem die Motivation der Schüler*innen erhöhen. In den Gedenkstätten sind die Referent*innen bemüht, dialogisch zu arbeiten, die Teilnehmenden in Entscheidungsprozesse und Diskussionen aktiv mit einzubeziehen und die Wahl des individuellen Zugangs zum Ort bzw. Thema offen zu lassen.
Während einer Führung bleiben einige aus der Gruppe zurück und sind unaufmerksam, obwohl der Guide etwas erklären möchte. Die Lehrerin ruft laut in die Richtung ihrer Schüler*innen: „Alle Mann antreten!“
Während einer Führung in der Gedenkstätte Sachsenhausen, 2012
2. Rollenverhältnis zwischen Gedenkstättenmitarbeiter*in und Lehrkraft bzw.
Gruppenbetreuer*in
Sie, die betreuenden Fachlehrer und Fachlehrerinnen, sind diejenigen, die Ihre Klasse am besten kennen und damit unsere wichtigsten Ansprechpersonen. Dies kommt besonders in der Planungsphase Ihres Gedenkstättenbesuchs zum Tragen. Damit die Gedenkstättenmitarbeiter*innen ein möglichst zielgruppenorientiertes Programm auswählen bzw. zusammenstellen können, sollten Sie bei der Anmeldung ausführliche Angaben zu Ihren Schüler*innen und deren Bedürfnissen machen. Während Ihres Besuches jedoch müssen Sie das Zepter ein wenig aus der Hand geben. Das fällt einigen Lehrer*innen nicht leicht. Wir machen gelegentlich die Erfahrung, dass Lehrkräfte thematisch in das Programm eingreifen, weil sie bestimmte Themen platziert wissen oder sicherstellen wollen, dass die für sie wichtigen Schlussfolgerungen „eindeutig“ vermittelt wurden. Das kann den*die Referent*in in der Durchführung seines*ihres Programms behindern bzw. seine*ihre Zielsetzung sabotieren. Besonders jüngere Gedenkstättenreferent*innen erleben häufig, dass sie in ihrer Expert*innen-Rolle für die Vermittlung der Geschichte des Ortes nicht ausreichend anerkannt werden. Wünschenswert ist ein kollegialer Umgang miteinander. Wenn Sie Beobachtungen machen, die Sie stören oder stutzig machen, nutzen Sie die nächste Pause zwischen zwei Arbeitsphasen und bitten den Guide um ein Gespräch unter vier Augen. Vieles lässt sich auf diese Weise leichter klären.
Gedenkstättenbesuche und -fahrten bedeuten für die begleitenden Lehrkräfte, viele organisatorische Aufgaben im Blick zu behalten. Das führt manchmal dazu, dass Lehrer*innen in der Zeit des gedenkstättenpädagogischen Seminars Ansagen an die Klasse richten, die inhaltlich dort nicht hingehören. Diese können positiven Inhalts sein („Am Ende unseres Programms gehen wir heute Nachmittag an den Badesee. Stellt Euch schon mal drauf ein!“), aber auch negativen Ursprungs sein („Wie Ihr Euch letzte Nacht in der Jugendherberge verhalten habt, will ich nicht noch einmal erleben, sonst sehe ich mich gezwungen, …“). Das ist insofern nachvollziehbar, als sie die Gelegenheit alle beieinander zu haben, für eine Ankündigung an die Gruppe nutzen wollen. Dem*der Referent*in erschwert dies die Arbeit allerdings sehr, weil diese*r mit der Stimmung, welche die Ansage unter den Jugendlichen erzeugt, umgehen muss bzw. sich diese Stimmung auf die Motivation der Jugendlichen, sich weiter in das Gedenkstättenprogramm einzubringen, überträgt.
Des Weiteren machen wir häufig die Beobachtung, dass die Vorstellungen der betreuenden Lehrkräfte in Bezug auf das Verhalten der Jugendlichen in einer Gedenkstätte von den unseren abweichen. Aus Sorge, die Jugendlichen könnten sich nicht angemessen verhalten oder sich im Seminar nicht ausreichend beteiligen, neigen viele Lehrer*innen dazu, ihre Schüler*innen vermehrt zu disziplinieren oder zu mehr Mitarbeit und Interesse anzuhalten. Ich würde Ihnen empfehlen, dies auf ein Nötigstes zu beschränken. Uns ist bewusst, dass Sie ihre Schüler*innen besser kennen, wir sie hingegen in einem äußerst überschaubaren Zeitfenster erleben. Uns wird es nicht möglich sein, in so kurzer Zeit den Blick für alle Teilnehmer*innen offen zu halten. Sie unterstützen uns dabei, indem Sie den Überblick über den Verbleib der einzelnen Schüler*innen behalten, oder auch in dem Fall, dass eine Einzelbetreuung notwendig wird. Sofern ein solches Handeln oder Eingreifen nicht erforderlich wird, wünschen wir uns, innerhalb der Veranstaltung erste Ansprechperson für die Jugendlichen zu sein. Auch haben wir einen anderen Blick darauf, was ein dem Ort angemessenes Verhalten ist.
Häufig beginnt die Kluft schon bei der Frage danach, ob die Jugendlichen während eines Gedenkstättenbesuchs essen und trinken dürfen. Wir nehmen daran in der Regel keinen Anstoß. Das körperliche Wohl ist für den Lernprozess absolut wichtig und körperliche Bedürfnisse sollten daher nicht übergangen werden. Außerdem ist der Aufenthalt im Gelände, im Sommer wie Winter, enorm anstrengend und gerade Jugendliche benötigen hierbei häufiger eine kleine Pause bzw. Stärkung. Auch bezüglich abweichender Unterhaltungen, Kichern und Lachen nehmen wir eine entspannte Haltung ein, solange es noch nicht in einem grob störenden Maße erfolgt. Wann dieses überschritten ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab und ist so individuell wie die Gruppen und die Referent*innen selbst. Gerade bei einem so belastenden Thema wie der Geschichte des Nationalsozialismus benötigen die Jugendlichen gelegentliche Pausen, die sie sich über persönliche Unterredungen holen. Anspannung und Stress, die der Anblick verstörender Bilder und Orte oder die Aufnahme belastender Inhalte verursachen können, werden mitunter durch Lachen abgebaut. Das muss kein Anzeichen für Respektlosigkeit oder Desinteresse sein. Für uns ist es wichtig, dass Sie akzeptieren, dass es sich bei NS Gedenkstätten um außerschulische Lernorte handelt, die zuweilen andere Maßstäbe ansetzen. Deren Mitarbeiter*innen wissen einen kollegialen Austausch mit den Lehrkräften sehr zu schätzen, die eine Gruppe begleiten, und sei es nur eine Verständigung durch Blickkontakt oder ein kurzes Nachfragen in der Pause.
In den Gedenkstätten wünschen wir uns zudem davon abzusehen, während der Führungen und Seminare Aufgaben zur Bearbeitung mitzugeben oder Schulnoten zu verteilen. Aufgabenbögen engen die Jugendlichen in ihrer Wahrnehmung der Gedenkstätte ein, indem sie sie auf die Suche nach den „richtigen Antworten“ schicken. Sollte ihnen das an einem ihnen unbekannten Ort nicht gelingen, stellt sich Frust ein. Der*die Referent*in gerät in die Rolle, den Jugendlichen beim Lösen ihrer Aufgaben zu assistieren und ist an der Durchführung des geplanten Programmes gehindert. Darüber hinaus sollte der Gedenkstättenbesuch ohne Leistungsdruck erfolgen. Wenn Gedanken und Empfindungen ohne Bewertung geäußert werden können, entsteht Raum für weiterführende Fragen.