Mit freundlicher Genehmigung des Wallstein Verlags
Im Januar 2021 erschien das Buch „Lernort Auschwitz“ des Aachener Historikers und Geschichtsdidaktikers Christian Kuchler. Der Autor berichtet über die lange Geschichte der Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz. Besonders aufschlussreich ist die Auswertung der Quellen, die zeigen, welche Erwartungen und teilweise auch Ängste die Jugendlichen vor dem Besuch hatten und welche Folgerungen sie aus dem Besuch für sich gezogen haben. Das Buch enthält wertvolle Anregungen für alle, die eine Gedenkstättenfahrt planen und zeigt auch, mit welchen Reaktionen der Schülerinnen und Schüler gerechnet werden muss.
Sie beschreiben eindrücklich, dass viele Schülerinnen und Schüler trotz eigentlich guter inhaltlicher Vorbereitung mit falschen Erwartungen und z.T. großen Ängsten nach Auschwitz bzw. zu anderen ehemaligen Lagern kommen.
Sind solche Ängste angesichts des Geschehens nicht unvermeidlich? Worauf würden Sie, um solche Ängste abzubauen bzw. um angemessen mit ihnen umzugehen, bei der Vorbereitung einer solchen Fahrt Wert legen?
Ich gehe davon aus, dass Ängste unvermeidlich sind. Gerade wenn die Schülerinnen und Schüler gut vorbereitet sind, kann es zu Angstsituationen kommen. Wichtig erscheint mir die Trennung zwischen Geschehensort und Gedenkstätte. Beim Lesen der Berichte drängt sich der Eindruck auf, viele Schülerinnen und Schüler differenzieren nicht zwischen dem, was zwischen 1940 und 1945 in Auschwitz passiert ist und dem Ort, an den sie heute fahren. Es scheint, als befürchten sie, in die Hölle des wirklichen Vernichtungslagers reisen, doch das tun sie ja ausdrücklich nicht.
Ein Weg, dies ganz gut in den Griff zu bekommen, ist den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, sich die Visualisierung einer Gedenkstätte im Vorfeld anzusehen. Im Falle von Auschwitz ist dies sehr gut möglich. Der Dokumentarfilm „Inside Auschwitz – das ehemalige Konzentrationslager in 360°“ eröffnet diese Option. Aber auch für andere Orte ist das inzwischen möglich. Wesentlich ist, dass die Jugendlichen den Museumscharakter der heutigen Orte erkennen, dem natürlich eine andere Situation zugrunde liegt als gängigen Museen oder Archiven. Ängste ließen sich reduzieren, wenn der museale Charakter schon vor der Abreise zur Gedenkstätte den Schülerinnen und Schülern bewusst wäre. Die Fahrtdokumentationen zeigen, dass die Kinder und Jugendlichen nicht mehr von Angst sprechen, sobald sie in der Gedenkstätte angekommen sind.
Was bedeutet Ihre Forderung, den „Historischen Ort in den Mittelpunkt zu stellen?“ Ist das nicht bei einer Gedenkstättenfahrt automatisch der Fall?
Auf den ersten Blick haben Sie Recht, denn was kann historischer sein als Auschwitz?
Andererseits: ungefähr dreißig Prozent der Fahrten werden nicht von Lehrkräften des Faches Geschichte begleitet. Sie finden statt im Rahmen des Religionsunterrichts, des Deutschunterrichts, des Politikunterrichts oder als „lockere“ Abschlussfahrt, die nach Krakau geht und bei der auch Auschwitz besucht wird.
Meine Forderung ist daher, dass gerade Fahrten in NS-Gedenkstätten im Schulalltag vorbereitet werden und die Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, sich den historischen Ort zu erschließen. Es geht also nicht nur darum, das Schockierende von Auschwitz in den Vordergrund zu stellen, sondern sich die Ereignisse, die passiert sind, tatsächlich zu erarbeiten. Die Gruppen sollten mit historischen Quellen aktiv werden, also nicht nur aus dem Bus aussteigen und ein paar Stunden dem Guide folgen. Es geht nicht darum, anschließend die Heimreise anzutreten und zu denken, nun haben wir alles gesehen und damit sind wir immunisiert gegen Rechtsradikalismus oder Antisemitismus.
Erarbeitet sollte der Ort dann sowohl für die Täter- als auch die Opferseite, womit die Perspektivität, die im Geschichtsunterricht so wichtig ist, gerade an diesem singulären Ort nicht in Vergessenheit gerät.
In Ihren Schwerpunkten für die Zukunft von Gedenkstättenfahrten betonen Sie die Notwendigkeit der Einbeziehung der internationalen Dimension des Gedenkens. Warum ist Ihnen das so wichtig? Haben Sie konkrete Ideen, wie das in der knappen Zeit eines Aufenthaltes etwa in Auschwitz realisiert werden könnte?
Das ist mir darum so wichtig, weil gerade bei der Lektüre der Berichte aus den letzten Jahren deutlich wurde: Die Schülerinnen und Schüler nehmen nicht mehr ausreichend wahr, nach Polen zu fahren. Vielmehr erscheint ihnen die Exkursion wie eine Fahrt innerhalb Deutschlands, was allerdings sehr skurril anmutet. Es ist wichtig, dass man zumindest die polnische Erinnerungskultur wahrnimmt und gerade in Auschwitz diese Unterschiedlichkeit in der Erinnerung sieht.
Wenn man aus deutscher Sicht bzw. aus der Sicht des deutschen Geschichtsunterrichts auf Auschwitz blickt, dann scheint es, dieser Ort sei ausschließlich ein Platz der Ermordung von Juden. In der polnischen Erinnerung spielen die Juden mittlerweile eine größere Rolle. Aber dass gleichzeitig die an Polen verübten Verbrechen dort herausgestellt werden, wird den Schülerinnen und Schülern aus Deutschland häufig gar nicht bewusst.
Daher wäre es aus meiner Sicht wichtig, in einer zunehmend heterogener werdenden Gesellschaft, diese unterschiedlichen Formen von Erinnerung an diesem einen zentralen oder sogar zentralsten Punkt der deutschen, europäischen Geschichte wahrzunehmen. Dass die Darstellung des Holocaust in Deutschland eine andere ist als in Polen und wieder eine andere ist als in weiteren Ländern.
Meines Erachtens wäre es sehr gut, in Auschwitz nicht nur die kanonischen Rundgänge zu absolvieren, sondern zusätzlich die zahlreichen Nationalpavillons in den Blick zu nehmen. Was stellen die einzelnen Länder in den Vordergrund, etwa im ungarischen Pavillon oder in der israelischen Ausstellung? Was rücken die Inszenierungen in den Mittelpunkt und wie tun sie das? Bei einer solchen Betrachtung treten gravierende Unterschiede hervor. Diese zu differenzieren und darüber mit Schülerinnen und Schülern zu sprechen, ist aus meiner Sicht etwas ganz Wesentliches.
Das lässt sich durchaus in der knappen Zeit, die die Gruppen auf dem Gelände der Gedenkstätte verweilen, machen. Die Lektüre der Berichte zeigt: viele Schülerinnen und Schüler verbringen ihre frei verfügbare Zeit ohnehin in einzelnen Nationalpavillons. Das erfolgt bislang aber völlig ungelenkt, sie haben alle völlig unterschiedliche Wahrnehmungsproblematiken, die dann nicht thematisiert oder problematisiert werden. Darauf könnte man vor Ort eingehen, es könnte aber auch bereits im Vorfeld im Klassenzimmer vorbereitet werden. Deutlich würde damit, wie wenig eine Reise nach Oświęcim eine Reise innerhalb Deutschlands ist. Die Gruppen begegnen der polnischen Erinnerungskultur und das ist eine der größten Chancen von Reisen zu Gedenkstätten außerhalb Deutschlands. Hilfreich zur Vorbereitung könnte beispielsweise die Lektüre der Rede des polnischen Präsidenten Andrzej Duda zum 80. Jahrestag des Kriegsausbruchs sein. Unterschiedliche Erinnerungsnarrative zeigen sich dann sehr schnell.
Wichtig ist Ihnen auch, dass die Rolle der Täter nicht übersehen wird. Warum ist Ihnen das so wichtig? Was könnte das konkret im Kontext einer Gedenkstättenfahrt bedeuten?
Die Täter dürfen nicht aus dem Blick geraten. Gedenkstättenfahrten laden förmlich dazu ein, sich auf die Opfer zu konzentrieren. Das ist Aufgabe der Gedenkstätte. Es ist aber wichtig, sich daneben auf die Täter zu konzentrieren. Nicht wie in den 50er und 60er Jahren, als die Geschehnisse einer engen Führungselite angelastet wurden, vielmehr gilt es zu fragen: „Warum werden aus normalen Männern Mörder?“
Mein Ansatz erschließt sich aus der Opferperspektive. Wir haben den üblichen Zugang, in eine Gedenkstätte zu fahren und nachzuschauen: Welche Opfer kommen aus meiner Region? Allerdings lässt sich das doch genauso für Täter praktizieren. Schließlich gibt es Täter in der Wohnumgebung der Schülerinnen und Schüler. Wer war das? Aus welchen Kontexten kommen sie (Polizei, Wehrmacht, SS…)? Was haben sie vorher gemacht? Und, vielleicht noch spannender: Was haben diese Menschen nach 1945 gemacht? Die Führungselite war nach 1945 nicht mehr tätig, aber es wäre spannend herauszufinden, was die Täter aus der Region nach 1945 gemacht haben, wie ihre Lebenswege weitergingen.
Kurzum: Der lokale Bezug wäre auch ein Zugang, die Rolle der Täter in den Blick zu nehmen.
Sie weisen darauf hin, dass Besuche etwa von Birkenau tiefe emotionale Ergriffenheit zur Folge haben können und fordern, diese Emotionen zu nutzen, andererseits warnen Sie vor Betroffenheitspädagogik und verweisen auf das „Überwältigungsverbot“ des Beutelsbacher Konsens.
Ist das nicht ein Widerspruch bzw. wie würden Sie diesen scheinbaren Widerspruch zwischen Emotionalität und Überwältigung auflösen?
Natürlich ist das ein Widerspruch. Wir fahren in Gedenkstätten, um die Tatsächlichkeit des dort Geschehenen für die Schülerinnen und Schüler fassbar zu machen. „Erlebbar“ würde ich es nicht nennen, sondern fassbar. Ich kann das Haus anfassen, ich sehe: hier ist es passiert. Daraus entwickeln sich Emotionen. Viele Schülerinnen und Schüler schreiben davon, nicht zu wissen, wo sie ihre Füße hinsetzen können und sollen. Gerade in Birkenau. Weil sie sich denken, mit jedem Schritt berühren sie einen Ort, an dem jemand gelitten hat oder vielleicht sogar gestorben ist. Das belastet sie massiv. Ich glaube aber, dass Schülerinnen und Schüler die Zeit brauchen, um miteinander reden zu können. Gerade bei Tagesreisen zu Gedenkstätten bin ich mir nicht sicher, ob es nicht heute immer noch passiert, dass eine Aussprache am Ort vor der Heimreise nicht stattfindet (diesen Fehler habe ich mit meinen Schulklassen ebenfalls gemacht, sehe ein solches Vorgehen inzwischen aber sehr kritisch).
Also: Emotionen sind wichtige Erkenntnispunkte. Das ist das eine. Das zweite ist die Ebene des Überwältigungsverbots. Ich habe damit in Auschwitz meine Probleme, wenn Kinder und Jugendliche im Stammlager den Haaren, Schuhen, den letzten Habseligkeiten der Opfer gegenübertreten und dann die Kinderschuhe sehen. Es gibt Berichte darüber, dass Schülerinnen und Schüler hier einen körperlichen Zusammenbruch erlitten haben. Jetzt kann man natürlich sagen, das ist ja passiert, die Leute sind alle gestorben, diese Kinder sind gestorben. Ich würde aber trotzdem dafür plädieren, weniger konfrontativ vorzugehen. Möglich ist dies vor allem in Birkenau. Diese riesige Fläche, diese Dimension, die sich hier auftun, sind mindestens so aussagekräftig wie das, was ich mit Überwältigung bezeichnen würde. Ich würde die Jugendlichen vielleicht gar nicht zu diesen Exponaten gehen lassen oder es ihnen zumindest freistellen, ob sie das sehen wollen oder nicht. Und im Nachklang mit ihnen thematisieren, warum die Exponate überhaupt im Stammlager sind. Sie sind in den 50er Jahren, als das Leid der polnischen Bevölkerung ausgestellt wurde, von Birkenau dorthin transportiert worden. Da liegen sie immer noch, und das wird in keinem der Berichte thematisiert. Es muss nicht dieser überwältigende Aspekt sein, es kann auch ein subtiler Eindruck, wie eben jener der Größe sein. Diese Leere des Raumes, die ich in Birkenau finde, ist etwas, was emotional sehr wohl bewegen kann. Daran kann man, finde ich, hervorragend für ein historisches Lernen anknüpfen.
Warum grenzen Sie sich von der „Betroffenheitspädagogik“ ab? Wo beginnt für Sie Betroffenheitspädagogik?
Betroffenheit wird sich an verschiedenen Stellen des Gedenkstättenbesuches ergeben. Beispielsweise ist die israelische Ausstellung stark auf Emotionalität ausgerichtet. Das hängt stark mit der israelischen Erinnerungskultur zusammen. Betroffenheit sollte auf der historischen Ebene behandelt werden. Eine Möglichkeit ist, auf dem Gelände, also am historischen Ort, eine Biografie zu lesen, autobiografische Skizzen von Opfern, etwa aus der Heimatregion, von Sinti und Roma oder von polnischen Opfern. Wenn ich solche Texte am Geschehensort lese, begebe ich mich außerhalb der klassischen Führungsrouten, die die Guides in Auschwitz-Birkenau zeigen. In diesen Rundgängen ist ohnehin kaum Zeit, um eigene Eindrücke zu sammeln. Dagegen wäre mir wichtig, gerade diese Zeit zu gewähren, an einzelnen Orten stehen zu bleiben und den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, ihre Eindrücke ganz individuell zu verarbeiten.
Sie warnen an mehreren Stellen Ihres Buches vor zu hohen Erwartungen in den Ertrag von Gedenkstättenfahrten, etwa im Sinne einer unmittelbaren Immunisierung gegen rechtsradikales Gedankengut. Trotzdem plädieren Sie für die Wiederaufnahme dieser Fahrten nach dem Abflauen der Pandemie. Könnten Sie Ihre Gründe dafür noch einmal pointiert nennen?
Es steht außer Frage: Gedenkstättenfahrten zeitigen Ertrag. Diesen Eindruck hatte ich schon in meiner Zeit als aktive Lehrkraft. Sie waren sicher die wichtigsten Exkursionen, die meine Klassen im Geschichtsunterricht gemacht haben. Aber die Hoffnung der Gesellschaft, vorne potenziell rechtsradikale Jugendliche reinzuschicken und hinten lupenreine Demokraten herauszubekommen, diese Hoffnung erscheint mir doch sehr blauäugig.
Ein Gedenkstättenbesuch ist ein wichtiger Beitrag zu einer demokratischen Erziehung. Aber eine solche demokratische Erziehung ist ein langer und mühsamer Prozess, der in der Schule, aber auch im Elternhaus und in der Gesellschaft insgesamt über einen langen Zeitraum geleistet werden muss. Es ist ein großes Mosaikstück, einen solchen Ort besucht und ihn sich selbst erarbeitet zu haben. Diese wissenschaftliche Vertiefung, die pädagogische Durchdringung kann wohl nur im Rahmen solcher schulischen Gedenkstättenfahrten gelingen. Deshalb müssen diese Fahrten nach dem Ende der Corona-Pause wieder aufgenommen werden.
Eine gute Geschichtslehrkraft sollte mit Schülerinnen und Schülern Gedenkstättenfahrten unternehmen.
Klaus Schlotterose und Gregor Randerath haben das Interview mit Christian Kuchler geführt.
Christian Kuchler, Lernort Auschwitz, Geschichte und Rezeption schulischer Gedenkstättenfahrten 1980 – 2019, Göttingen 2021