Von Sarah Rehberg
Diese Internetseite möchte Lehrer*innen und Pädagog*innen bei ihrer Entscheidung, ob sie einen Gedenkstättenbesuch mit Jugendlichen ins Auge fassen möchten, unterstützen. Zwar ist der Besuch von Gedenkstätten in den meisten Bundesländern fest in den Rahmenlehrplan verankert, dennoch tun sich bei den Lehrkräften zahlreiche Fragen und/oder auch Bedenken gegenüber seiner Umsetzung auf. Im Folgenden möchte ich auf einige dieser Fragen aus gedenkstättenpädagogischer Sicht eingehen und bin bemüht, mögliche Befürchtungen abzubauen oder zumindest sachlich zu begegnen. Mein Name ist Sarah Rehberg und ich arbeite seit 2015 als historisch-politische Bildnerin, davo mehrere Jahre für de Besucherdienst der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen in Oranienburg bei Berlin. Zuletzt war ich dort unter anderem mit der Durchführung von Lehrerfortbildungen betraut. Seit Anfang 2020 bin ich in der Bildungsabteilung des Dokumentationszentrum Topographie des Terrors in Berlin tätig. Mit diesem Beitrag hoffe ich, auch jene zu unterstützen, die ich persönlich nicht erreichen kann.
„Allein das Wissen zu den Orten der nationalsozialistischen Massenverbrechen ist tief verunsichernd, umso mehr braucht pädagogische Vermittlung an diesen Orten Orientierung – für Mitarbeiter(innen) und Besucher(innen) gleichermaßen.“
Thimm, Kößler, Ulrich, „Verunsichernde Orte“, 2010, S. 9.
Der Besuch einer NS-Gedenkstätte oder die Gedenkstättenfahrt unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom gängigen Museumsbesuch oder Aufenthalt in einer anderen außerschulischen Bildungsstätte. Das ist nicht nur inhaltlich unschwer erkennbar, sondern äußert sich auch immer wieder in Gesprächen mit Lehrer*innen. Im Gegensatz zu anderen Klassenausflügen stellen viele Lehrkräfte im Vorfeld des Gedenkstättenbesuchs deutlich komplexere Überlegungen an. Sie äußern Bedenken darüber, unter welchen Umständen sich dieser sinnvoll in den schulischen Unterricht integrieren lässt und ob er überhaupt für alle Schüler*innen gleichermaßen geeignet bzw. für jede Gruppe zweckmäßig ist. Darüber hinaus haben sie häufig hohe Erwartungen hinsichtlich der Lernerfolge, die sich bei den Jugendlichen einstellen sollen. Angesichts der sensiblen Thematik, welche den NS- Gedenkstätten zugrunde liegt und der daran geknüpften oder erhofften Lernziele bei äußerst diversen Zielgruppen steht der Gedenkstättenbesuch vor großen pädagogischen und didaktischen Herausforderungen. Diese möchte ich in diesem Text ansprechen. Denn so unbestritten das pädagogische Potential von Gedenkstättenbesuchen ist, so sehr müssen auch die didaktischen Herausforderungen des Lernens am historischen Ort thematisiert werden. Nur so können realistische Vorstellungen von einem gelungenen Gedenkstättenbesuch und Erwartungen zu möglichen Lernzielen gewonnen werden. Anhand dieser Fragen möchte ich auf folgende Punkte weiter eingehen:
1. Pädagogisches Selbstverständnis der NS-Gedenkstätten
2. Rollenverständnis zwischen Referent*in und Lehrkraft bzw. Gruppenbetreuer*in
3. Bedenken gegenüber dem Gedenkstättenbesuch – ist er für alle geeignet?
4. Praktisches zur Planung
5. Vor- und Nachbereitung des Gedenkstättenbesuches
1. Pädagogisches Selbstverständnis der NS-Gedenkstätten
Das historisch-politische Lernen am historischen Ort, insbesondere mit Schülergruppen, stellt uns vor einige pädagogische und didaktische Herausforderungen. Das liegt daran, dass sich an den Besuch von NS-Gedenkstätten häufig ganz besondere pädagogische Erwartungen knüpfen: nämlich, dass hier besonders ein- und nachdrücklich Geschichte begriffen werden könne. Die Gedenkstätte soll der Anschaulichkeit dienen, dem besseren Nachvollziehen und Verstehen. Auch die Jugendlichen werden nicht selten mit dieser Erwartungshaltung konfrontiert. Oft bringen sie sogar selbst Erwartungen an sich oder den Ort im Gepäck mit. Wir Gedenkstättenmitarbeiter*innen sprechen von einer Authentizitätserwartung der Besucher*innen an den historischen Ort, die meist auf vorgefertigte Bilder im Kopf zurückzuführen ist. So wollen viele Schüler*innen Dinge sehen, von denen sie in Erzählungen und Literatur schon „so oft“ gehört haben, die sie durch Dokumentar- und Spielfilme bereits „tausendfach“ vor Augen hatten. Sie entwickeln klare Vorstellungen davon, was in einer NS-Gedenkstätte zu sehen sei. Auch haben diese Bilder und Berichte sie womöglich emotional sehr berührt und sie setzen nun auf eine mindestens ebenso intensive, emotionale Erfahrung am „authentischen“ Ort. Beides kann ausbleiben. Dass sie nämlich kein Konzentrationslager besichtigen, sondern eine moderne, den vielfachen Funktionen angepasste, über die Jahre veränderte Gedenkstätte, darauf sind viele Jugendliche im Vorfeld gedanklich nicht vorbereitet. Enttäuschung über den Ort oder gar über sich selbst kann die Folge sein. Andere wiederum glauben aufgrund ihres vertrauten Umgangs mit Bildern und Darstellungen über den Nationalsozialismus und den Holocaust ausreichend auf das, was sie erwartet, vorbereitet zu sein und sind von der Konfrontation mit dem historischen Ort emotional überwältigt. In den Gedenkstätten begegnen den Mitarbeiter*innen alle denkbaren Reaktionen und Emotionen. Aufgrund der Spezifik des historischen Lernortes „Gedenkstätte“ hat sich in der Bildungsarbeit eine eigene Gedenkstättenpädagogik herausgebildet, die bemüht ist, auf komplexe Besuchererwartungen adäquat zu reagieren und ihren eigenen Bildungsauftrag ständig zu reflektieren. Ohne die Absicht, für andere Gedenkstätten oder Pädagog*innen sprechen zu wollen, die an ähnlich „verunsichernden Orten“ wie dem einer KZ-Gedenkstätte arbeiten, möchte ich an dieser Stelle gern versuchen, einige wichtige Grundsätze vorzustellen, die in der Gedenkstättenpädagogik immer wieder wichtige Orientierungspunkte bilden.
Emotion und Wissen
„Ich dachte, ich würde hier irgendwie traurig sein, aber ich fühle gar nichts. Ich glaube, mit mir stimmt etwas nicht.“
Eine Schülerin der 9. Klasse zum Ende der Führung durch die Gedenkstätte Sachsenhausen, 2017
Oft beherrscht die Vorstellung, junge Menschen müssten von einem Gedenkstättenbesuch emotional berührt werden, die gesellschaftlichen Erwartungen und die ihrer Lehrer*innen. Bestimmte Emotionen von Jugendlichen jedoch abzuverlangen oder dahingehend gezielt zu beeinflussen, ist selten erfolgreich und ruft eher Abwehrreaktionen hervor oder gar Enttäuschungen bei den Jugendlichen selbst, wenn diese ausbleiben. Auch können starke Emotionen den Lernprozess behindern. Die Aufnahmefähigkeit für neue Inhalte kann mitunter stark beeinträchtigt werden, wenn körperliche Erfahrungen wie Hitze, Kälte, Enge oder der Anblick von Gaskammern, Leichenkellern und Gefängniszellen bewusst in den Fokus genommen werden. Im Vordergrund der Erfahrung steht dann das körperliche oder emotionale Empfinden, nicht aber das Verständnis um die Geschichte des Ortes. Schlussfolgerungen, die jede Schülerin und jeder Schüler individuell für sich zieht, sind dann kaum noch nachvollziehbar und müssen nicht zwangsläufig die gewünschte Wirkung einer Sensibilisierung für das Leid der Opfer beinhalten. Im Gegenteil, langfristig können solche Erfahrungen eine Abwehr für das gesamte Thema auslösen. Daher gilt es, die Schüler*innen nicht emotional zu überfordern, sondern fundiertes Wissen zu vermitteln. Es ist richtig, dass Empathie wichtig für den Lernprozess und schlussendlich für die Meinungsbildung bzw. das Fällen von Werturteilen ist. Mithilfe einer biografischen Annäherung das Handeln historischer Akteure in ihren historischen Strukturen zu verstehen, ihre Erfahrungen zu begreifen, bildet hierzu den nötigen Rahmen. Ein Nachempfinden dieser Erfahrungen, indem Schüler*innen angemahnt oder methodisch dorthin gelenkt werden, sich in damalige Situationen hineinzuversetzen, ist nicht legitimer Bestandteil historischen Lernens. Es ist weder erstrebenswert, noch historisch betrachtet ansatzweise möglich.
Prinzip der Freiwilligkeit: Die Gedenkstätten empfehlen meist einen Besuch auf freiwilliger Basis, d.h. dass die Jugendlichen in die Entscheidung für einen gemeinsamen Besuch eingebunden werden. Den Gedenkstättenmitarbeiter*innen ist aber bewusst, dass der Gedenkstättenbesuch in einem schulischen Rahmen organisiert wird, der nicht immer eine freiwillige Teilnahme garantiert. Dennoch herrscht in den meisten Gedenkstätten das Prinzip der Freiwilligkeit. Das bedeutet, dass es den Schüler*innen überlassen ist, sich Situationen, die sie überfordern, jederzeit zu entziehen. Im Idealfall macht der*die Referent*in transparent, was als nächstes passieren wird und überlässt es den Jugendlichen, den nächsten Schritt mitzugehen.
Moral und Urteilskraft
„Und deswegen ist es wichtig, dass Ihr später immer wählen geht.“
Die Lehrerin einer 10. Klasse bei der Evaluationsrunde am Ende eines Studientages in der Gedenkstätte Sachsenhausen, 2016
Gedenkstättenbesuche und die schulische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoa sind über die Jahre verstärkt in das Feld einer allgemeinen Menschenrechts- und Demokratieerziehung gerückt. Dies ist Ausdruck eines Standpunkts, dass sich aus dem Nationalsozialismus allgemeingültige Lehren formulieren ließen. Ohne dies an dieser Stelle kritisch analysieren zu wollen, ob diesem Ansatz zuzustimmen ist oder nicht, sollte dies nicht dazu führen, dass Pädagog*innen – Lehrer*innen wie Referent*innen der außerschulischen Bildung gleichermaßen – vorgefertigte Werturteile und Appelle als angestrebte Lernziele dem Lernprozess vorwegnehmen. Ein Bildungsangebot sollte junge Menschen dazu ermutigen, Beobachtungen kritisch zu hinterfragen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Auch ein Gedenkstättenbesuch sollte die Schüler*innen dazu befähigen, am Ende eines Lernprozesses eigene Werturteile zu formulieren und nicht zum Ziel haben, sie moralisch zu beeinflussen. Teil dieses Lernprozesses ist es, die Fragen und Meinungen der Schüler*innen offen zu diskutieren, auch die unpopulären. Hier betone ich noch einmal ganz bewusst die Funktion der Gedenkstätte als außerschulischer Lernort historisch politischer Bildung. Spontanäußerungen, die der Ort bei manchen Jugendlichen hervorbringen mag, müssen ohne Sanktionierung möglich sein. Was nicht ausgesprochen wird, kann auch nicht verhandelt werden. Unser Ansatz liegt eher darin, aufzudecken, wo provokante oder gar politisch problematische Äußerungen ihren Ursprung haben und mit Faktenwissen darauf einzugehen.